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Nun ist sie weg

Mobirise

Wir haben nie gezählt, wie lange wir als Paar miteinander durchs Leben gegangen sind. Es muss so etwa ein Vierteljahrhundert plus x gewesen sein. Wir hatten stets darauf geachtet, unser eigenes Leben zu führen. Keine gemeinsame Wohnung, keine Ehe, allenfalls ein gemeinsames Wochenendomizil im Wendland. Das war für beide, die wir immer auf Autonomie bestanden, die ideale Lösung.



Im Herbst dann aus heiterem Himmel die niederschmetternde Diagnose: Lungenkrebs – nicht operabel, auf längere Sicht unheilbar. Wie viel Zeit bleibt noch und wofür? Alle Urlaubspläne, die wir trotzig schmiedeten, scheiterten an den Terminen von Chemotherapien und Bestrahlungen. 



Bei einem Waldspaziergang machte Marion mir einen überraschenden Heiratsantrag. Wir standen auf einer Lichtung und heulten beim Ja-Wort so gerührt und intensiv, dass der Waldboden wohl genug Flüssigkeit abbekam, um dort ein paar kräftige Bäume wachsen zu lassen. 



Wir sind in meine Altonaer Wohnung zusammengezogen. Ihr Bett stellten wir so, dass sie einen direkten Blick auf den gegenüberliegenden Neubau einer Genossenschaft hatte. In diesem Bauprojekt hatten wir uns bereits vor Jahren zwei nebeneinanderliegende barrierefreie Wohnungen fürs Alter reserviert. Marion sah jetzt täglich den Bauarbeitern bei deren Schaffen an ihrer Wohnung zu. Wir hofften, den für den Spätsommer 2020 geplanten Einzugstermin erleben zu können. Doch bald wurde klar, dass der Krebs sein Werk schneller vollenden würde als die Bauarbeiter, die ihr Bestes gaben. Als Marion in den letzten Tagen ein hydraulisches Pflegebett benötigte, stellten wir es erst gar nicht mehr in die Sichtachse zu unserem Genossenschaftshaus. 



Am Anfang unserer Beziehung waren wir häufig zu Gast in einem badischen Lokal im Wendland, dem „Rebstock“. Hier genossen wir einen besonders feinen Wein, den „Bickensohler Kühler Morgen“. Er stand Pate am Beginn unserer Beziehung. Was lag also näher, als am absehbaren Ende noch einmal zur gleichen Flasche zu greifen. Die Bestellung erfolgte, die Lieferung ließ auf sich warten. „Wenn ein System nicht einmal in der Lage ist, eine Flasche Wein in angemessener Zeit auszuliefern, dann gehört es abgeschafft.“ Mit dieser Klage wider den unfähigen Kapitalismus verabschiedete sich Marion mit einem sanften Lächeln aus diesem Leben. 



Es war unser gemeinsamer Wunsch, ohne Kirche und ohne Friedhof aus diesem Leben zu treten.

Sie ist nun vorangegangen und ruht im FriedForst Gartow in der Elbtalaue.

Die rasant fortschreitende Krankheit ließ es nicht zu, dass Marion sich von den vielen, die sie gemocht hatte, verabschieden konnte. Aber man kann sie besuchen. Sie ruht unter einer mächtigen Buche. Man kann dort mit ihr ins Gespräch kommen und man kann ihr mit einem Glas „Kühler Morgen“ zuprosten. 



Rainer Link

 

Impressum: Rainer Link, Harkortstraße 48, 22765 Hamburg, mail@erinnerung-an-marion-pein.de